L wie LANDLIBELL
Im Landlibell Kaiser Maximilians vom 23. Juni 1511, einer Urkunde, in der der Kaiser – im Einvernehmen mit den Tiroler Landständen – festlegte, dass und wie die Stände zur Verteidigung des Landes Kriegsdienste zu leisten hatten, liegt in gewisser Weise das Tiroler Schützenwesen begründet. Das Landlibell bildete einen Teil der Tiroler Landesverfassung und regelte auch die Ausgestaltung des Militärwesens.
Die Verteidigungsmannschaft bestand aus zwei Gruppen: A) dem Aufgebot (ein quasi stehendes Milizheer), eingeteilt nach Gerichten (Verwaltungseinheiten) in einer Stärke von 5.000 bis 20.000 Mann, je nach Bedrohung. B) dem Landsturm (eine Art der Reserve in der Bevölkerung), in dem bei plötzlichem Einbruch des Feindes alle Wehrfähigen vom 16. bis zum 60. Lebensjahr aufgeboten wurden.
Das Landlibell beinhaltete weiter, dass das Aufgebot und der Landsturm nur innerhalb des Landes Tirol Kriegsdienst leisten mussten, und dass ohne Bewilligung der Landstände kein Krieg begonnen werden sollte, der Tirol betraf.
Die Ausrüstung samt Waffen war von Aufgebot und Landsturm zu beschaffen, und damit war auch das Recht verbunden, dass jeder Wehrfähige eine Waffe tragen durfte. Dies begründete das Schützenwesen.
Wenngleich das Landlibell immer wieder den geänderten militärischen und politischen Anforderungen angepasst und in gewisser Weise und unter gewissen Umständen auch verletzt wurde (Napoleonische Kriege, Bayernbesetzung, italienische Unabhängigkeitskriege, Einführung der allgemeinen Wehrpflicht in Österreich um 1870), so wurde dennoch auf dieses Landlibell im Jahr 1915 zurückgegriffen, als Italien, entgegen allen Abmachungen, dem Österreichischen Kaiserreich den Krieg erklärte. Damit tat sich für Österreich plötzlich eine Süd-West-Front auf, die in unglaublicher Weise von den Standschützen gehalten wurde, also von all jenen, die zu jung oder zu alt für den regulären Wehrdienst waren, bis reguläre Truppen eintrafen. Die Gültigkeit des Landlibells erstreckte sich somit von 1511 bis 1918.
Der (mütterliche) Urgroßvater des Verfassers dieser Schrift, Dr. Franz Preindlsberger, Richter in Glurns, stand als Standschützenmajor an der Ortlerfront im Einsatz. Die Großväter Paul Hafner, Josef Unterpertinger dienten als Offiziere im 2. Kaiserjägerregiment, Ignaz Fragner war Unteroffizier der Artillerie.
Ein persönlicher Gedankengang, der zwar nicht ganz richtig am Platz in einer sachlichen Aufzählungschronik ist, der aber aus einem inneren Bedürfnis dennoch niedergeschrieben werden muss. Denn innert dreier Generationen wurden die Männer meiner Familie – aber dies gilt für die meisten deutschsprachigen Südtiroler – in drei verschiedene Waffenröcke gesteckt (und machten verschiedene Kriege mit): Meine Großväter in des österreichischen Kaisers k. u. k. Rock (siehe oben, 1. Weltkrieg), mein Vater (geb.1920) in jenen der deutschen Wehrmacht Adolf Hitlers (Mitglied der Gebirgsjägertruppe, 2. Weltkrieg), ich selber bin Oberleutnant der Reserve des 4. italienischen (Gebirgsjäger-)Armeekorps und war im „Kriegseinsatz hinter der Front” im Ersten Golfkrieg von 1991. Wenngleich sich mein absolut lächerlicher „Kriegseinsatz” auf die Bewachung strategischer Punkte im italienischen Hinterland beschränkt hat, so hat die Tatsache, dass ich im Notfall hätte schießen müssen, doch einige Narben und viele Fragen in mir hinterlassen.
Der (Obere) Vintschgau hatte über Jahrhunderte unter schweren Verwüstungen durch Kriege, durchziehende Söldnerheere, Truppenbesetzungen und allen nachfolgenden Leiden wie Hungersnöte und Seuchen zu leiden. Grenzgängertum, Karrnerwesen, Schmuggel und Schwabenkinder waren mittel- und unmittelbare Folgen. Nationalsozialismus und Faschismus haben tiefe Wunden in die Südtiroler Seele gerissen, und diese Wunden sind heute noch nicht verheilt. Gottlob gibt es in Europa seit 1945 keinen „großen” Krieg mehr, gottlob ist der obligatorische Wehrdienst in den meisten Ländern Europas abgeschafft, gottlob gibt es den „Euro”, der uns europäische Völker – nolens volens – friedlich zusammenhält. Aber das abschreckende Beispiel der Balkankriege (zwischen 1991 und 1999), der nach wie vor schwelende Kosovokonflikt – nota bene: mitten in Europa – und die Waffenkonflikte, die aktuell an vielen Orten der Welt im Gange sind, lehren uns, dass „Frieden” immer prekär ist, und dass die unbezahlbaren Güter „Frieden und Freiheit” über alles zu schätzen und mit allen Mitteln – friedlich – zu verteidigen sind.